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Chancengleichheit für schwerhörige Menschen

erschienen in: Sozialrecht+Praxis 7/2014, Seiten 425-428

Leitfaden zur Gestaltung hörfreundlicher Arbeitsplätze

Menschen mit einer Höreinschränkung haben im Arbeitsleben häufig Probleme, denn viele Hör-Barrieren erschweren ihnen die Kommunikation. Das Projekt hörkomm.de hat gemeinsam mit Unternehmen und Experten Lösungsansätze erprobt und einen Leitfaden zur Gestaltung hörfreundlicher Arbeitsplätze entwickelt.

Über die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit einer Höreinschränkung ist in der Arbeitswelt wenig bekannt. Das musste auch Bettina Kringel, Schwerbehindertenvertreterin des Online-Konzerns OTTO feststellen. Zu einer Schwerbehindertenversammlung hatte sie Gebärdensprachdolmetscher engagiert, die für die gehörlosen Teilnehmenden alle Wortbeiträge gut sichtbar in Gebärden übersetzten. Nach der Veranstaltung wandte sich eine Zuhörerin an Bettina Kringel und berichtete ihr, wie sehr auch sie, obwohl sie nicht gehörlos sei, von den Gebärdensprachdolmetschern profitierte. Als Schwerhörige hätte sie der Sitzung trotz ihres Hörgerätes nur schlecht folgen können, wenn es die visuelle Unterstützung der Dolmetscher nicht gegeben hätte. Eine Problematik, die der Schwerbehindertenvertreterin bis dahin nicht bewusst gewesen war und sie nun handeln ließ. Bettina Kringel initiierte regelmäßige Treffen mit schwerhörigen Kollegen und holte das Thema damit aus der Tabuzone.

Doch ein solches Engagement für Beschäftigte mit Hörminderungen ist in Unternehmen noch viel zu selten vorhanden. Dabei sind Höreinschränkungen weiter verbreitet als allgemein bekannt. Nach einer Studie des Mediziners Wolfgang Sohn aus dem Jahr 2000 sind 19 Prozent der Deutschen über 14 Jahre mehr oder weniger stark hörbeeinträchtigt. Mit zunehmendem Alter lässt das Hörvermögen nach. So belegt die Studie von Sohn und Jörgenshaus (2001), dass jeder Vierte unter den 50- bis 59-Jährigen nicht mehr gut hört. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und einer steigenden Lebensarbeitszeit werden damit zukünftig auch mehr schwerhörige Menschen in den Betrieben tätig sein.

Wie sich Schwerhörigkeit im Berufsleben auswirkt

Doch welche Folgen hat die Schwerhörigkeit für einen Berufstätigen? Meist macht sich die Einschränkung schleichend bemerkbar. Man versteht etwa beim Kollegengespräch in der lauten Kantine nicht mehr jedes Wort, überhört schon mal das Telefonläuten im Großraumbüro und muss immer häufiger nachfragen, was der Gesprächspartner eben gesagt hat. Schwerhörigkeit bedeutet nicht nur, dass man alles etwas leiser hört. Vielmehr werden bestimmte Frequenzen nicht mehr wahrgenommen und ähnlich klingende Laute nicht mehr unterschieden, so dass es leicht zu Missverständnissen kommt. Ab einer Minderung der Hörfähigkeit um 25 Dezibel (dB) geht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von einer geringgradigen Schwerhörigkeit aus. Ab 30 dB ist, je nach Art der Hörstörung, bereits ein Hörgerät indiziert.

Doch wie schon das oben erwähnte Beispiel der OTTO-Mitarbeiterin gezeigt hat, reichen Hörgeräte allein nicht immer aus. Die Betroffenen stoßen im Arbeitsleben ständig auf Situationen, in denen das Verstehen zusätzlich erschwert wird. Etwa weil Büroräume mit vielen glatten Flächen ausgestattet sind, von denen der Schall reflektiert und nicht absorbiert wird. So entsteht ein Nachhall, der das Gesagte verfremdet. Oder weil viele Nebengeräusche und eine größere Entfernung des Zuhörers zum Vortragenden das Verständnis erschweren. Betroffene, deren Richtungshören nicht mehr funktioniert, können den Wortbeiträgen bei schnellen Sprecherwechseln nicht mehr folgen.

Wie sich solche Barrieren für Menschen mit Hörstörungen abbauen lassen, zeigt das Projekt hörkomm.de. Es wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und von dem Forschungsunternehmen DIAS GmbH durchgeführt. Gemeinsam mit Experten und Unternehmen haben die Projektmitarbeiter Hör-Barrieren analysiert und Lösungsansätze für eine hörfreundliche Arbeitsumgebung entwickelt. Festgehalten sind sie in einem Leitfaden, der auf der Internetseite www.hörkomm.de veröffentlicht ist und bis zum Projektabschluss Anfang 2015 laufend ergänzt wird. Der Leitfaden umfasst mehrere Handlungsfelder, in denen Barrierefreiheit für schwerhörige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschaffen werden kann. Dazu gehören eine integrative Unternehmenskultur sowie raumakustische Maßnahmen und technische Lösungen zur Hörunterstützung.

Schwerhörigkeit nicht länger als Tabu ansehen

Im Gespräch mit Experten und Betroffenen zeigte sich, wie wichtig es ist, das Thema Hörminderung auf allen Betriebsebenen ins Bewusstsein zu rücken. Oft wagen Betroffene es nicht, sich im Unternehmen zu ihrer Einschränkung zu bekennen. Sie vermeiden sogar, ein Hörgerät zu tragen, weil sie eine Stigmatisierung befürchten. In der heutigen Gesellschaft wird das Tragen eines Hörgerätes häufig mit der negativen Vorstellung von Alter und Gebrechlichkeit verbunden. Der hörkomm.de-Leitfaden geht auf diese Problematik ein und erläutert, was Unternehmen ändern können. Grundlegend ist dabei das Signal an die Mitarbeiterschaft, dass das Thema Schwerhörigkeit nicht tabuisiert wird.

Wie das in der praktischen Umsetzung aussehen kann, zeigt das Beispiel des Flugzeugherstellers Airbus in Hamburg. Hier veranstaltete die Schwerbehindertenvertretung des Konzerns den „Tag des guten Hörens“. Auf ihrem Betriebsgelände konnten sich Airbus-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter an Infoständen von Hörgeräteakustikern, dem Deutschen Schwerhörigenbund und hörkomm.de über viele Aspekte rund um das Thema informieren. In einem zusätzlich angereisten Hörmobil wurden kostenlose Hörtests durchgeführt. Die Veranstaltung stieß auf reges Interesse bei den Beschäftigten.

Gute Akustik erleichtert den Arbeitsalltag

Dieses und weitere Beispiele wurden als Best-Practice-Beispiele in den hörkomm.de-Leitfaden aufgenommen. Auch zum Thema der guten Raumakustik sind hier Informationen und Beispiele aufgeführt. Verantwortliche aus Unternehmen, wie etwa aus dem Bereich Gesundheitsmanagement und Schwerbehindertenvertretung, erfahren hier mehr über Einflussgrößen für gute Raumakustik oder die Richtlinien für Schallschutz und Hörsamkeit in Büroräumen. Wie die Bedingungen für gutes Hören und Kommunizieren konkret umgesetzt werden können, wird sowohl für Neubauvorhaben wie auch für vorhandene Räumlichkeiten erklärt. Praxisbeispiele belegen, wie die Nachrüstung in einem bestehenden Gebäude erreicht werden kann. So ist etwa dokumentiert, in welchen Schritten eine schwerhörige Mitarbeiterin des Versicherungskonzerns AXA in ihrem Büro zu einer Lösung gelangte. Dort entstanden störende Schallreflexionen, die das Sprachverstehen extrem erschwerten. Mit Unterstützung des Integrationsamtes führten Akustikberater eine Raumanalyse durch. Als Ergebnis wurden schallabsorbierende Wandpaneele über dem Schreibtisch der Mitarbeiterin angebracht, die die Akustik deutlich verbesserten.

Technik unterstützt die uneingeschränkte Kommunikation

Um Menschen mit Höreinschränkungen die Teilnahme an Konferenzen und Besprechungen uneingeschränkt zu ermöglichen, sind Anlagen zur technischen Hörunterstützung erforderlich. Sie können Wortbeiträge der Teilnehmer direkt auf die Hörgeräte des Zuhörers oder ausgeteilte Kopfhörer übertragen. Störgeräusche wie etwa Papierrascheln und Husten kann ein hörbehinderter Teilnehmer, selbst wenn er mit einem Hörgerät ausgestattet ist, oft nur schwer filtern. Durch eine direkte Übertragung sind solche Störquellen ausgeschaltet. Die Tonsignale werden je nach Höranlage über Induktionsschleife, Funkwellen oder Infrarot-Lichtstrahlen übertragen. Der Leitfaden erklärt, welche Anlagen für welche Verwendungen geeignet sind. Auch hier haben die Projektmitarbeiterinnen von hörkomm.de Vorhaben begleitet und als Best-Practice-Beispiel aufgenommen.

Alle Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen werden im Online-Leitfaden ausführlich erläutert und als komprimierte Tipps in Checklisten kurz und knapp zusammengefasst. Zudem bietet der Leitfaden weitere Informationen, etwa zu den unterschiedlichen Typen von Hörgeräten und ihrer Finanzierung. Von Beratungsstellen der Selbsthilfe über Forschungskontakte und Kostenträger bis hin zu Akustikexperten und Anbietern von Höranlagen oder schallabsorbierenden Materialien reicht die Liste wichtiger Adressen. So unterstützt der Leitfaden alle, die sich darum bemühen, dass uneingeschränktes Hören und Kommunizieren am Arbeitsplatz für alle zur Selbstverständlichkeit wird.

Ann-Britt Petersen