Sie sind hier: hörkomm.de > Über uns > Projekthintergrund

Projekthintergrund

Vorstudie für den Leitfaden „Barrierefrei hören und kommunizieren in der Arbeitswelt“

Als Vorarbeit für den Leitfaden haben wir untersucht, ob und wie das Thema Schwerhörigkeit in Unternehmen behandelt wird. Wir befragten Expertinnen und Experten aus Wirtschaft und Verbänden: Wird Schwerhörigkeit in Unternehmen überhaupt als Problem erkannt und gibt es bereits Maßnahmen, um barrierefreie Arbeitsbedingungen zu schaffen? Die Mitte 2012 veröffentlichten Auswertungen machen deutlich, dass in Unternehmen noch Handlungsbedarf besteht.

Methodik

In leitfadengestützten Interviews wurden knapp 20 Experten aus den Bereichen Gesundheit und berufliche Rehabilitation sowie Vertreter aus großen Unternehmen zum Thema „Umgang mit Schwerhörigkeit in Betrieben“ befragt. Interviewt wurden z.B. Vertreter der Verbände der Disability Manager, des Betrieblichen Gesundheits- und Eingliederungs-managements und der Betriebsärzte. Weiterhin Schwerbehindertenvertretungen, zuständige Kostenträger, technische Berater und die Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA).

Die Interviews wurden aufgezeichnet und im Anschluss qualitativ ausgewertet.

Die Ergebnisse

Schwerhörigkeit ist in Unternehmen kein Thema

Bei dieser Einschätzung waren sich alle befragten Expertinnen und Experten einig: Schwerhörigkeit wird als Thema in Unternehmen bislang kaum wahrgenommen.

Eine Ausnahme bilden Branchen, in denen die Beschäftigten dauerhafter Lärmeinwirkung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Dies kann unter Umständen eine „Lärmschwerhörigkeit“ verursachen. Lärmschwerhörigkeit ist die am häufigsten gemeldete Berufskrankheit und tritt insbesondere bei Beschäftigten der metallverarbeitenden Industrie oder im Baubereich auf. Gemäß Arbeitsschutzgesetz steht in den betroffenen Unternehmen die Prävention von Schwerhörigkeit im Fokus. Ziel ist es, den Lärm zu vermindern, Mitarbeiter über die Gefahren aufzuklären und geeignete Gehörschutzmittel bereitzustellen. Betriebsärzte sind dazu verpflichtet, regelmäßig Hörscreenings im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen durchzuführen.

Bekannt sind weiterhin einzelne Betriebe, die sich die Integration hochgradig schwerhöriger oder gehörloser Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf die Fahnen geschrieben haben. Oft sind es engagierte Schwerbehindertenvertretungen, die sich für diese Personengruppen einsetzten. An den Arbeitsplätzen stehen in der Regel technische Hilfsmittel zur Verfügung, die im Rahmen von Arbeitsplatz­anpassungen von Integrationsämtern oder anderen Kostenträgern finanziert wurden.

Den befragten Experten waren allerdings keine Unternehmen bekannt, die das Thema Schwerhörigkeit präventiv vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und älter werdender Belegschaften aufgreifen.

Dabei sprechen die Zahlen für sich: 25 % der 50- bis 59-jährigen und 37 % der 60- bis 69-jährigen Deutschen leiden heute unter Schwerhörigkeit. Und was ganz wichtig ist: nur ein sehr kleiner Teil schwerhöriger Menschen entschließt sich überhaupt dazu, das Problem aktiv anzugehen und Hörgeräte zu tragen. In Deutschland sind schätzungsweise 15 Millionen Menschen schwerhörig, davon sind nur ca. 2,5 Millionen mit Hörgeräten versorgt.

Die Angst, sich zu „outen“

Schwerhörigkeit ist eine Behinderung, die man nicht sieht und über die man anscheinend auch nicht spricht. Alle befragten Experten sehen es als großes Problem, dass die Betroffenen sich nicht zu ihrem Handicap bekennen und entsprechende Unterstützung einfordern. Auch Schwerbehindertenvertretungen in großen Unternehmen klagen darüber, dass sich die schwerhörigen Kollegen nicht bei ihnen melden, entsprechend also keine Interessenvertretung für diese Zielgruppe möglich ist.

Veronika Schwartau, Vertrauensfrau der Schwerbehinderten, Airbus Deutschland GmbH:

Wir würden gerne sehr viel mehr machen. Diejenigen, die wir erreichen können – für die können wir auch was tun. Aber für den Rest entfällt das – und ich denke mal, die Dunkelziffer ist bei 15.000 Mitarbeitern schon sehr groß. […] Es ist immer wieder das gleiche Problem: sie [die Schwerhörigen] müssten sich outen.

Das Nichtbeachten und Verschweigen der Schwerhörigkeit gilt übrigens nicht nur für das betriebliche Umfeld. Schwerhörigkeit wird in unserer Gesellschaft generell als Makel empfunden, Hörgeräte stehen für Alter und Gebrechlichkeit. Dies ist der Hauptgrund, warum viele Schwerhörige nicht offen mit ihrer Einschränkung umgehen und entsprechende Hilfsmittel wie Hörgeräte nutzen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass weniger als 40 % der schwerhörigen Menschen ihren Kollegen oder Freunden von dem Hörverlust erzählen.[1]

Schwerhörigkeit taucht also erst gar nicht als Thema oder Problem in den Betrieben auf. Vor diesem Hintergrund wundert es auch nicht, dass von betrieblicher Seite keine Notwendigkeit gesehen wird, Unterstützung anzubieten oder auf die Barrierefreiheit der Arbeitsumgebung zu achten.

Psychische Belastung durch Schwerhörigkeit?

In den letzten Jahren ist die Zahl psychischer Erkrankungen in Unternehmen extrem gestiegen. Einige Experten wiesen darauf hin, dass auch Schwerhörigkeit – neben anderen Faktoren – ein Auslöser hierfür sein kann. Denn Schwerhörigkeit, insbesondere wenn sie vor Kollegen und Arbeitgebern ständig verborgen werden muss, belastet und zehrt an Kraft und Nerven.

Eine empirische Studie aus Italien bestätigt diese Vermutung. Danach leiden Arbeitnehmer mit unbehandeltem, leichten oder mittelschweren Hörverlust öfter unter psychischen und sozialen Problemen am Arbeitsplatz und gehen häufiger in die Frühverrentung als nicht Betroffene.[2]

Welche Maßnahmen ergeben sich aus der Analyse des Status quo?

Sensibilisierung von Unternehmen

Nach Meinung der befragten Fachleute muss der offene Umgang mit dem Thema Schwerhörigkeit in den Unternehmen kultiviert werden.

Bettina Grundmann, Hörberaterin, Bund der Schwerhörigen e.V.:

Bewusstseinsbildung ist ja ein Begriff aus der Inklusionsdebatte. Ich habe ja vorhin schon darauf hingewiesen, dass Schwerhörigkeit eine versteckte Behinderung ist. Es müssen einfach die Arbeitgeber der Firmen sensibilisiert werden. Auch wenn der Schwerhörige behauptet, ihm geht’s gut, er hat keine Probleme. Denn im Hintergrund können doch Probleme vorhanden sein.

Als erste Aufgabe ergibt sich, Arbeitgeber und Führungskräfte zu informieren und zu sensibilisieren. Inhaltlich sollte zunächst über den Zusammenhang zwischen der demografischen Entwicklung und der Zunahme von schwerhörigen Beschäftigten aufgeklärt werden. Im Anschluss gilt es, mögliche Problemfelder in Unternehmen aufzuzeigen und Handlungsoptionen vorzustellen.

Dies mit dem Ziel, eine „hörfreundliche Unternehmenskultur“ zu schaffen, in der Beschäftigte mit Hörbeeinträchtigung in ihren Anforderungen wahrgenommen werden und keine Vorbehalte oder Ängste haben, ihre Bedürfnisse einzufordern.

Empowerment der Schwerhörigen

Parallel zur Sensibilisierung der Arbeitgeber sollten auch die schwerhörigen Beschäftigten dabei unterstützt werden, ihre Bedürfnisse und Anforderungen selbstbewusst zu vertreten. Gelernt werden muss, von dem Defizit-Blickwinkel auf die eigene Behinderung abzukehren und mögliche Gestaltungsspielräume zu nutzen.

Carsten Ruhe, Referatsleiter Barrierefreies Planen und Bauen, Deutscher Schwerhörigenbund e.V.:

Die Schwerhörigen dürfen nicht erwarten, dass man sie „abholt“, sondern sie müssen selbst offensiv mit ihrer Behinderung umgehen. Eine mindestens gleich große Barriere wie ihre Schwerhörigkeit ist die Hemmschwelle. Deshalb ist es wichtig, dass […] das Selbstbewusstsein der Hörgeschädigten gefördert wird und dass sie auch die baulichen und technischen Möglichkeiten einer barrierefreien Umgebung kennenlernen. Nur wenn die Betroffenen ihre Forderungen selbst stellen, wird die bisherige „Fürsorge“ wirklich zu einer allgemeinen Barrierefreiheit.

Zu seinem Handicap zu stehen und Unterstützung einzufordern, ist sicherlich einfacher, wenn man Kollegen und Kolleginnen kennt, die vergleichbare Hindernisse zu überwinden haben. Maßnahmen im Sinne des Empowerments unterstützen auch den Austausch zwischen den „Betroffenen“ mit dem Ziel, aus den Erfahrungen der anderen zu lernen und gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen.

Über mögliche Hilfsmittel informieren

Bettina Grundmann, Hörberaterin, Bund der Schwerhörigen e.V.:

Es muss möglich sein, dass die Hörgerätekosten wieder voll übernommen werden. Gerade für Berufstätige. Es ist einfach ein Horror, was da abläuft. Nur mit einer guten Hörgeräteversorgung kann ich überhaupt vollwertig, soweit es mir möglich ist, berufstätig sein. Es kann nicht sein, dass, weil ich ein minimales Einkommen habe, ich deswegen von der Kommunikation am Arbeitsplatz ausgegrenzt werde.

Alle Experten weisen darauf hin: Eine qualitativ gute Hörgeräteversorgung ist Grundlage für erfolgreiche Kommunikation am Arbeitsplatz. Allerdings ist die Finanzierung von Hörgeräten und Hilfsmitteln immer noch ein Problem. Daran können zwar auch die Unternehmen nichts ändern, es wäre aber von Vorteil, wenn sie über die Möglichkeiten der Finanzierung durch die unterschiedlichen Kostenträger aufklären und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Beantragung von Hörhilfen unterstützen könnten.

Fazit

Schwerhörigkeit ist im Arbeitsleben bislang kein Thema. Aus Angst, als „alt, gebrechlich und weniger leistungsfähig" wahrgenommen zu werden, sprechen viele schwerhörige Menschen nicht über ihre Hörminderung; geeignete Hilfsmittel wie Hörgeräte werden eher selten genutzt. Bei der Arbeit kann dies neben Verständnis- und Kommunikationsproblemen auch zu besonderen psychischen Belastungen der schwerhörigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen führen.

Wenn es nun darum geht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, waren sich die befragten Experten einig: Die Sensibilisierung von Arbeitgebern und Führungs­kräften, die Schaffung einer offenen, hörfreundlichen Unternehmenskultur, Informationen zu möglichen Lösungsansätzen wie Barrierefreiheit und die Stärkung der Betroffenen sind Aufgaben, denen sich das Projekt hörkomm.de annehmen und die in dem Leitfaden für Unternehmen aufgegriffen werden sollten.

[1] http://www.hear-it.org/de/Viele-sprechen-nicht-uber-ihren-Horverlust

[2] Quelle: Monzani, D., et al., (2008): Psychological profile and social behaviour of working adults with mild or moderate hearing loss, in: Acta Otorhinolaryngolica Italica, 28(2): S. 61–66.